Fräulein Wunder AG

Ein Bankett für Tiere

Die Fräulein Wunder AG hat auf ihrer Recherchereise mit Wölfen geheult, Falken fliegen lassen, in den frühen Morgenstunden auf Wild gewartet und Fischschwärme bewundert. Sie fragt nach Herrschaftsverhältnissen, nach Projektionen auf das Wilde; und sie fragt: was esse ich, was begehre ich, und was will ich mir einverleiben?

Deshalb bereitet die Fräulein Wunder AG ihren Gästen ein exklusives Abendessen. Gang für Gang legt sie dabei die Schichten der Beziehung von Mensch und Tier frei. Sie übt sich in der Kunst des Jagens, ergreift die Positionen von Aktivisten und Mastbauern und sucht nach dem Tier in sich selbst. Immer wieder dient das Tierische als Projektionsraum, um über menschliche Sehnsüchte, Grenzen und Gesellschaftsordnungen nachzudenken. Das gemeinsame Essen wird so zu einer utopischen Begegnung. Aber was bieten wir den Tieren eigentlich im Tausch? Teilen wir mit ihnen den Stadtraum und geben ihnen demokratische Rechte? Oder müssen wir konsequenterweise selbst zum Bankett für Tiere werden?

Über Fräulein Wunder AG

Fräulein Wunder AG ist seit 2006 Deckname für ein sechsköpfiges Kollektiv, bestehend aus Anne Bonfert, Melanie Hinz, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Malte Pfeiffer und Carmen Waack, das sich aus dem gemeinsamen Studium der Kulturwissenschaften und Szenischen Künste an der Universität Hildesheim gründete. Ihre Arbeiten zwischen Performance, Theater, Aktionkunst und städtischer Intervention entstehen in kollektiven Arbeitsstrukturen: Alle Mitglieder sind zugleich Konzeptentwickler, Dramaturgen, Regisseure und Performer. Ausgangspunkt dieser Arbeitsweise sind Recherchereisen in fremde Kontexte, Städte und Länder, zu fast vergessenen biographischen Spuren, zu Wissenschaftlern und Experten des Alltags. Ihre Stoffe sucht die Arbeitsgemeinschaft an der Schnittstelle von gesellschaftlichem Diskurs und persönlich relevanten Themen, die sie in unterhaltsame, filmische und theatrale Bilder und Aktionen transformiert. Die Produktionen der Fräulein Wunder AG waren bereits auf zahlreichen Festivals zu sehen, darunter das PAZZ Festival, die Theaterszene Europa, Odyssee Heimat und das Freischwimmer Festival. Für Auf den Spuren von … wurden sie mit dem Jury-Preis des Best OFF-Festivals der Stiftung Niedersachsen und dem Innovationspreis der Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet. Seit 2010 erhalten sie eine Basisförderung der Landes Niedersachsen.

Fräulein Wunder AG möchte mit ihren Aufführungen auch Menschen ansprechen, die nicht ohnehin schon zum klassischen Theaterpublikum gehören. 

Die Hildesheimer Gaststätte „Zur scharfen Ecke”, ein Hinterstübchen mit gediegenem Charme: ein vertäfelter Raum, Hirschgeweihe, Trockenblumengestecke und alte Kutschräder an der Wand. Die Zuschauer verteilen sich an gedeckte Tische. Der „theaterfremde” Ort schafft gleich – wie in Erwartung eines gemeinsamen Mahls oder eines Festakts – eine besondere Nähe. Erste Getränkebestellungen werden von einer Bedienung entgegengenommen. Derweil sitzt am Rande, auf einem Hochsitz, bereits einer der Spieler mit einer Ebermaske auf dem Kopf.
Die Performer betreten den Raum. In der Eingangsszene, die sich athmosphärisch langsam und gefahrvoll aufbaut, zeigen sie mimisch und gestisch das stoische Gemüt von Rehen; die sind, wie sich nach dem Lockruf eines Jägers gleich erweisen wird, dem Tod geweiht.
Im Rahmen einer offenen Dramaturgie wandeln sich im Folgenden nun vielfach die Spiel- und Wirklichkeitsebenen: An den Tischen werden Fantasievorspeisen serviert, den Gästen werden Fragen gestellt zu ihren Essgewohnheiten und -vorlieben, im Rahmen einer „Kochshow” wird an den Tischen ein veganes Pseudofleischgericht zubereitet. Video-Projektionen zeigen Naturidyllen und Artenreichtum. Statements von Schlachtern, Mastbauern, Tierrechtlern werden verlesen. Und am Ende werden die Bankettgäste erneut besonders involviert: Wie Besucher oder Mitarbeiter eines Schlachthofs hüllen sich die Zuschauer in eine Plastikmontur, folgen den Anweisungen einer Stimme, die leise aus einer Lampe flüstert – und formieren sich schließlich um einen nackten Frauenkörper, der bloßgestellt vor ihnen daliegt. Zum Schluss fliehen die Tiere durch die Fenster nach draußen, auf die grell erleuchtete Straße, in die (vermeintliche) Freiheit der Hildesheimer Nacht.

Massentierhaltung, Tierversuche, Ernährungsethik – das wären Schlagworte einer aktuellen Diskussion, zu der die Aufführung herausfordert, die sie zugleich jedoch selbst auf intelligente Weise fortführt – und stört. Denn die „Fräulein Wunder AG” versendet mit diesem Abend keine eindeutigen Botschaften, sondern lädt in erster Linie dazu ein, mit allen Sinnen eine Erfahrung zu machen und zu teilen: Schmecken, riechen, genaues Hinhören und Hinsehen ist hier angesagt, um das Verhältnis von Mensch und Tier zusammen zu bedenken und zu beforschen. Aus dem verhandelten „aktuellen Thema” wird so ein ganz einzigartig verstörendes („Kann man das essen?”, „Wer ist hier eigentlich das Tier?”) und erstaunliches Erlebnis.

Dr. Ole Hruschka für die Auswahljury

Stab

Von und mit: Melanie Hinz, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Malte Pfeiffer, Carmen Waack

Ausstattung, Kostüm: Verena zu Knyphausen

Assistenz: Michael Kranixfeld, Marleen Wolter

Video, Sound: Jonas Hummel, Maurice Braun, Thomas Orr

Gefördert von: Land Niedersachsen, Fonds Darstellende Künste, Stiftung Niedersachsen, Stadt Mannheim, Stadt Köln und Friedrich Weinhagen Stiftung